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17.10.2018, 12:01 Uhr
Festrede des Ministerpräsidenten bei Festakt anlässlich des 100. Jahrestages der deutschen Autonomie an der Wolga im Landtag
Landesbeauftragte Ziegler-Raschdorf mit Goldener Ehrennadel geehrt
Wiesbaden, 17. Oktober 2018 - Vor fast einhundert Jahren wurde am 19. Oktober 1918 infolge der Russischen Revolution den deutschstämmigen Siedlern in der Wolgaregion ein eigenes Autonomiegebiet zugestanden, aus dem 1924 die „Wolgarepublik“ hervorging.
Bis heute ist die Erinnerung an die Eigenständigkeit und Selbstverwaltung ihrer Volksgruppe für die Wolgadeutschen von identitätsstiftender Bedeutung. Die Wolgarepublik war nicht nur prägend für ihre Geschichte, sondern spiegelt in tragischer Weise durch die damit verbundenen, später bitter enttäuschten Hoffnungen, das Schicksal der Volksgruppe wider.

In seiner Festrede brachte Ministerpräsident Bouffier seine Freude darüber zum Ausdruck, dass die Deutschen aus Russland von sich sagen, endlich angekommen zu sein. Gerne helfe ihnen die Landesregierung bei der Eingliederung. „Das ist uns Verpflichtung“, betonte er. Dabei unterstrich er: „die Spätaussiedler sind ein wichtiger, geschätzter und willkommener Teil des Landes. Sie haben unser Land bereichert.“ Hessen biete viele Chancen, „und ich wünsche mir, dass sie und ihre Familien diese wahrnehmen.“ Das Land sei sich seiner besonderen Verantwortung gegenüber den Deutschen aus Russland bewusst und habe bereits sehr viel geleistet. So gebe es nicht nur einen eigenen Unterausschuss für den Bereich Heimatvertriebene und Spätaussiedler im Hessischen Landtag, sondern auch der 2013 eingeführte Landesgedenktag für die Opfer von Flucht, Vertreibung und Deportation beziehe diese explizit mit ein.

Hinsichtlich der Geschichte der Wolgarepublik herrsche in der Gesellschaft eine weitverbreitete historische Unkenntnis. Jedoch führe erst ein besseres Wissen um die Geschichte der Deutschen aus Russland auch zu einem tieferen Verständnis. Darum sei die heutige Veranstaltung für Hessen und darüber hinaus auch so wichtig. Unverschuldet hätten die Deutschen aus Russland für die Geschichte des 20. Jahrhunderts gleich mehrfach bezahlen müssen. Sie hätten es besonders schwer gehabt. Wann immer der Furor des Nationalismus um sich greife, treffe dieser zuerst die Minderheiten. „Ich bin Menschen begegnet, die haben dreimal neu anfangen müssen: an der Wolga, in Zentralasien und dann in Deutschland.“ Er wünsche sich daher, „dass wir erklären, was war, um zu verstehen, was ist.“ Die hessische Landesregierung habe die Spätaussiedler bereits seit Jahrzehnten aus tiefer Überzeugung heraus unterstützt, wodurch sehr viel gegenseitiges Vertrauen erwachsen sei. Ministerpräsident Bouffier versicherte, diese Unterstützung auch künftig weiterzuführen und bei Bedarf immer wieder neu anzupassen. Als Zeichen der Verbundenheit, hatte er hessische Wappen aus Keramik mitgebracht, welche er den Vertretern der russlanddeutschen Verbände überreichte.

Zu Beginn der Festveranstaltung im Foyer des Hessischen Landtags hatte die Geschäftsführerin der Deutschen Jugend aus Russland (DJR), Albina Nazarenus-Vetter, in ihrer Begrüßungsansprache dem Ministerpräsidenten dafür gedankt, dass sich die hessische Landesregierung des Themas „100 Jahre deutsche Autonomie an der Wolga“ angenommen habe und er selbst bereit gewesen sei, die Schirmherrschaft über die Festveranstaltung im Hessischen Landtag zu übernehmen. Nach ihrer Begrüßung der rund 300 Gäste, unter denen sich u. a. neben dem Ministerpräsidenten und Landtagspräsident Norbert Kartmann, auch die Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Margarete Ziegler-Raschdorf, ihr Vorgänger im Amt Rudolf Friedrich, der Landtagsabgeordnete und Vorsitzende der Union der Vertriebenen (UdV), Ulrich Caspar sowie der Kulturreferent der Bundesregierung für die Russlanddeutschen, Edwin Warkentin sowie die Vorsitzenden der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland aus Nordrhein-Westfalen und Bayern befanden, wurden diese noch einmal durch Landtagspräsident Norbert Kartmann, dessen familiäre Wurzeln in Siebenbürgen liegen, in seiner Funktion als Hausherr herzlich willkommen geheißen. Er wies darauf hin, dass die Wolgadeutschen sich nach ihrer „Rückkehr“ aufgrund ihrer Verwurzelung in zwei Ländern in einer besonderen Situation befänden.

Dies sei ein hochkomplizierter, aber auch sehr interessanter Vorgang. Er brachte seine Hoffnung zum Ausdruck, dass es ihnen gelingen möge, nicht nur als Brückenbauer in die Herkunftsländer zu wirken, sondern auch ihr mitgebrachtes kulturelles Erbe weiterzutragen. Johann Thießen, Bundes- und hessischer Landesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LMDR), ging in seiner Ansprache auf den „langen und beschwerlichen Weg“ ein, den die Deutschen aus Russland in ihrer bewegten Geschichte zurückgelegt hätten: „Am Anfang stand ein Aufbruch in der Hoffnung auf ein neues Leben in einer neuen Heimat“, doch sei manche Erwartung angesichts nahezu menschenleeren Steppe, die erst mühsam urbar gemacht werden musste, nicht in Erfüllung gegangen. „Mit großem Fleiß, Mut und Geschick“, sei es schließlich gelungen, „blühende Kolonien zu schaffen.“ Dabei hätten sich die Siedler über Generationen hinweg ihre Sprache, ihr religiöses Bekenntnis und ihre Bräuche bewahrt. Die durch die Begründung der deutschen Autonomie an der Wolga und der daraus hervorgegangenen Wolgarepublik gehegten Erwartungen hätten sich allerdings letztlich als Trugschluss erwiesen.

Nach Einfall der Deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion hätten die Leiden unter dem Stalin-Regime 1941 ihren Höhepunkt mit der Verbannung der Deutschen nach Zentralasien gefunden, obwohl es aus geschichtswissenschaftlicher Sicht keinerlei Anhaltspunkte für eine Kollaboration der Wolgadeutschen mit der Wehrmacht gegeben habe. Eine Rehabilitierung und die Wiederherstellung autonomer Selbstverwaltung an der Wolga seien trotz aller Bemühungen bis zum Ende der Sowjetunion ausgeblieben. Auch dies habe dazu beigetragen, dass viele nach deren Zerfall nach Deutschland ausgesiedelt seien. „Damit scheint der lange Weg zu Ende. Er war bestimmt von dem Wunsch nach einem Ankommen und einer dauerhaften Heimat. Auch wegen dieser ausgeprägten Sehnsucht ist die Erinnerung an die Wolgarepublik bis heute so lebendig“, so Thießen weiter. Er sei indes fest davon überzeugt, dass die Deutschen aus Russland nun endlich angekommen seien. Dass ihnen dies möglich wurde, sei vor allem auch den Rahmenbedingungen zu verdanken, die sie insbesondere in Hessen vorgefunden hätten. So habe das Land bereits 1985 die Patenschaft über die Wolgadeutschen übernommen, deren Vorfahren größtenteils von hier stammten.

Thießen sprach dem hessischen Ministerpräsidenten seinen ganz persönlichen sowie den Dank der ganzen Volksgruppe für die „verlässliche, starke und solidarische Partnerschaft“ aus. Dies gelte in besonderem Maße auch für die Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, Margarete Ziegler-Raschdorf. Als unverzichtbare Ansprechpartnerin und Unterstützerin in allen Belangen, sei sie „eine besondere Freundin der Deutschen aus Russland.“ In Würdigung ihres Engagements für die Spätaussiedler, überreichte er gemeinsam mit Albina Nazarenus-Vetter die Goldene Ehrennadel der LMDR an Margarete Ziegler-Raschdorf, die davon sichtlich überrascht war. Sie bedankte sich mit den Worten: „Die Deutschen aus Russland sind mir in all den Jahren sehr ans Herz gewachsen. Ich fühle mich überaus geehrt und werde die Ehrennadel mit Dankbarkeit und Stolz tragen.“ Nach einem Vortrag des Kulturreferenten am Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, Edward Warkentin, über die „Geschichte und Kultur der Wolgadeutschen“, wurde der offizielle Teil des Festaktes mit dem Lied der Deutschen beschlossen.

Die hessische Landesbeauftragte Margarete Ziegler-Raschdorf zeigte sich von dem Festakt tief beeindruckt: „Wir haben heute eine sehr feierliche und dem Anlass entsprechend würdige Veranstaltung hier im Landtag erleben dürfen. Bei dieser Gelegenheit war wieder einmal deutlich zu sehen, dass die Deutschen aus Russland in der Mitte der Gesellschaft stehen.“